Gedanken-Insel ... Findlinge aus der Anderwelt ... Fassung ungekürzt
Samstag, 10. Oktober 2015
Schwulsein anders als offen definiert
Samstag, 10. Oktober 2015, 10:54
Ein bisschen was Persönliches kann man aus der anonymen Warte schon mal ins Netz schmeißen. Bislang blieb ich mit sowas sehr vorsichtig.

Ich lebe nämlich nicht 'geouted' und möchte es auch nicht noch mal werden.
Der Unterschied zwischen der fluffig-rosigen Kampagne für LSBTI-Toleranz in Deutschland, wie wir sie durch Medien, deren Macher und herausragende Persönlichkeiten serviert bekommen, und der faktischen Wirklichkeit, ist so kolossal, dass ein 'Outing' nur in jener vorgefertigten Schillerwelt zu eindeutig positiver Aufnahme führt.
Nicht aber unbedingt im wirklichen Leben. Da kann das unter Umständen dein ganzes Leben zerstören, deine Laufbahn abschneiden und auf der weniger fluffigen, unrosigen Seite auch ganz schön garstig enden.

Mehrfach sämtliche sozialen Kontakte einzubüßen, von gerade entstehenden Bekanntschaften diskret darauf hingewiesen zu werden, dass ich zu Feten oder Treffen, zum Grillen oder gemeinsamen Aktivitäten nicht mehr erscheinen brauche, weil etwas über meine Partnerwahl im Falle dass ... in die Reihen des Bekanntschaftsbewusstseins vorgedrungen war, das hat mir doch gereicht, um nach dem wiederholten neuen Lebensbeginn in einer wieder neuen Stadt das 'Outing' ad acta zu befördern.

Aber vielleicht kann es für manche wichtig sein, Schwulsein anders als vermutet zu beschreiben. Vielleicht gerade für solche Zeitgenossen, auf deren Agenda alle Schwulen offen definiert als wahllos herumvögelnde, promiskuitive, dauergeile, liebesächtende Sex-Torpedoisten gelten, denen HIV und Hepatitis A-C knapp am Arsch vorbei gehen, und die für jeden bareback zu habenden Ebensolchen ihre Gesundheit nach hinten schieben.

Zu erfahren, dass Schwulsein auch etwas anders ablaufen kann, als in einem 08/15-Porno von irgend einer amerikanischen Hunkboy-Schmiede oder einer Nachtbeschreibung vom Besuch in der Cruising-Szene und im Darkroom ... Vielleicht hilft das auch all denen zu einer weniger verzerrten Weltsicht, die das Thema Schwulsein bisher immer nur von fern betrachtet haben.

Dass nicht jeder Schwule auch 2000 Sexpartner pro Lebensdurchlauf haben muss, davon haben einige vielleicht schon gelesen.

Dass es auch Schwule gibt, die bislang noch nie Jemanden so nahe kennen gelernt haben, dass sich die Frage erheben könnte, ob jener irgendwann zu einem möglichen Sexpartner werden könnte, das würden gerade solche, die Schwule kategorisch bevorurteilen, nicht wahrhaben können.

Nicht nur der Teil über den Sex spielt dabei eine Rolle. Aber weil es dieser Teil ist, über den sich die allgemeine, tendenziell homophob eingestellte Kritikerschaft von Natur-Alterismen gewöhnlich am meisten aufregt, muss er auch erwähnt werden können. Interessanter Weise, muss man ja sagen, erregt der Teil über den Sex Diejenigen am meisten, welche über Sex entweder nicht viel wissen ( Religiöse, Geistliche, Theologen ) oder solche, die andere Partner-Ausrichtungen generell ablehnen oder sie verurteilen. Aber zu diesem Thema mehr in einem späteren Eintrag.

Wenn man als Schwuler schon eine geraume Zeit unterwegs ist, aber trotzdem noch nie Geschlechtsverkehr oder überhaupt eine Beziehung in der Richtung hatte, ist man leider auch unter anderen Schwulen schnell unten durch. Keiner nimmt einen ernst, alle bedauern und belächeln diesen Umstand, halten einen für unehrlich und sonstwas deswegen.
Dann werden die üblichen Gründe anberaumt:

-zu hässlich
-zu alt
-zu seltsam
-zu dick
-zu Neandertaler-Style
-zu doof ( um an Sex zu kommen )
-zu schüchtern, zu ängstlich, zu blöd ...

Wenn manches davon wenigstens teilweise zutreffen könnte, ist man zwar vorerst Mal raus aus dem Schneider.
Aber gerade, weil es überall diese offen definierte Begrenzung dafür gibt, was einen Schwulen rechtmäßig auszeichnen soll, meint man dann, dass es doch nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn ein schwuler Single sich noch nicht ein einziges Mal aus lauter Nöten anonym auf irgend einem öffentlichen Klo hat durchnageln lassen.

Fällt man auch in dieser Kategorie der Seelen-Striptease-Mutmaßungen unbehaftet aus, wird Argwohn ein Schatten, den man so leicht nicht mehr los wird, egal, wo man geht und steht.

Schwule sind nach dieser offenen Definition ohne Sex-Erfahrung überhaupt nicht vorstellbar. Weder von anderen Schwulen, noch durch das allgemeine Publikum. Eher wird dir also das Schwulsein abgesprochen, wenn du noch nie mit Jemandem geschlafen hast, als dass man die Idee der Unerfahrenheit, des Absolute-Beginner-Status, als reale Tatsache verbucht.

Ist das nicht traurig?

Würde man jetzt einwerfen, dass man ein ganzes Leben lang schwul sein kann, ohne jemals mit Jemandem zu schlafen, würden wahrscheinlich die Testleser des Artikels völlig überschnappen, weil man damit ja ein ehernes Grundgesetz des Schwulseins überträte. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. weil eine größere Allgemeinheit etwas anderes kennt und weiß und glaubt. Aber es gibt auch solche Schwule. Sie fallen vielleicht nicht auf, und tanzen nicht nackt in den Straßen herum, wenn der CSD da durch rollt. Sie wissen, was ein Darkroom ist, weil sie darüber in einer FAQ auf einem Schwulen-Portal gelesen haben, und daher kennen sie auch den Ausdruck des 'Cruising', oder vielleicht doch von einer Kreuzfahrt in der Karibik.
Vielleicht kennt man etliche einschlägige Begriffe und sogar manches Etablissement. Aber man war noch nie drin, hat keine praktische Berührung mit diesen Dingen. Gehört nicht so richtig dazu, lebt wie durch einen Trennschleier davon abgeschottet.

An solche Schwule glaubt die Welt nicht. Die ihr Schwulsein nicht interaktiv praktizieren. Vermutlich gibt es auch davon Viele, aber sehen wird man das nie.

Auch einen weiteren Blickwinkel sieht man 'draußen' schließlich kaum. Verliebt sich ein Schwuler in Jemanden, bedeutet das noch lange kein Happy End.
Es gibt viel weniger Schwule als Hetero- oder Bisexuelle da draußen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Schwule in einen Heterosexuellen verliebt, ist ziemlich hoch. Nur nützt ihm das natürlich nichts, denn er kann sich nie offenbaren.

Und so kann Schwulsein, selbst wenn man darin aktiv werden möchte, viele enttäuschungsreiche Facetten anbieten. Das aber will keiner wissen.

Offen definiert sind Schwule nur als sexgesteuerte, andauernd von Bett zu Bett hüpfende Dauerbesamer gültig. Wer anders ist - das ist in der so genannten Community nicht anders als unter den Allgemein-Menschen - ist raus!

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